Eine Antwort auf Rezo – der in der Zeit viele Gründe anführt, weshalb Menschen sich nicht engagieren.
TL,DR: Mir ist das zu einfach. Es ist egal, ob es anstrengend ist. Es lohnt sich trotzdem.
Lieber Rezo,
in der Onlineausgabe der Zeit hast Du Dich relativ ausführlich damit beschäftigt, welche Gründe es geben kann, sich in keiner Partei zu engagieren. Ich weiss, dass etliche Menschen so denken – ich habe aber auch eine ganze Reihe von Argumenten gelesen, die ich zumindest mal hinterfragen möchte.
Ich gehöre nämlich zu denen, die seit über 25 Jahren in einer Partei mitarbeiten. Ich gehöre zu denen, die das aus Überzeugung tun, und ich gehöre zu denen, die ihre eigene Meinung nicht im Tausch gegen ein Parteibuch abgegeben haben. Will heissen: Ich teile ein Ziel mit der Partei, in der ich mitarbeite. Aber ich teile nicht alle Standpunkte. Trotzdem stehe ich dafür, politisch in dieser Gesellschaft etwas zu bewegen.
Ich bin Ende der 80er Jahre in die SPD eingetreten, aber im Grunde genommen war ich schon viel früher zur SPD affin. Ich habe im Wahlkampf 1969 Willy Brandt erlebt – da war ich sieben Jahre alt, und damals habe ich weiss G’tt nicht viel von dem verstanden, um das es Willy Brandt ging. Was ich verstanden hatte: Da war jemand, der Dinge verändern wollte.
Ende der 60er, das war die Zeit der Studentenunruhen, der Vietnamkriegs, der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Ich kann Dinge nennen, die mich beeindruckt haben: Zum Beispiel ein Bericht des Weltspiegels, in dem es um Polizeigewalt gegen Demonstrant*innen zum Parteitag der Demokraten in Chicago ging (das war 1968). Oder – anderes Medium – das Foto des Polizeichefs der sübvietnamesischen Haupstadt Saigon, der einen Vietcong-Kämpfer einfach mal so auf offener Strasse hinrichtet. Genauso haben der Tod Benno Ohnesorgs und das Attentat auf Rudi Dutschke ihre Spuren hinterlassen. Man bekommt Dinge mit, wenn in der Familie darüber diskutiert wird.
Die Gesellschaft in der Bundesrepublik war damals eine andere. Zwar waren der Krieg und die Nazidiktatur inzwischen zweieinhalb Dekaden her, aber die Nazis gab es ja immer noch: In Gerichten, Schulen, Verwaltungen bis hin zur Bundesregierung. Unter den Talaren und so.
Und dann kam Brandt, und der wollte was ändern, hatte Ideen und eine Vision von einer besseren, gerechteren, friedlicheren Welt. Heute denke ich: Der war durchaus problematisch – mit Alkoholproblemen, einen fragwürdigen Umgang mit Frauen, und da gibt es sicher noch mehr Punkte zum diskutieren. Das wichtigste war aber: Da war einer, der sich auf den Weg machte, die Welt zu verändern, und dabei Widerstände überwand. Ein Vorbild für eine politische Haltung (von der ich heute auch denke, dass er einen Claim gefunden hatte, eine Agenda, die er lebte, aber auch vermarktet hat. Anyway).
In den 70ern und frühen 80ern war mir das zu wenig radikal, auch wenn ich die Richtung okay fand. Mein persönliches Engagement fand dann ausserhalb des Spektrums der etablierten Parteien statt: Bei Hausbesetzungen, Demonstrationen an Raketenbasen im Rheinland, in der Anti-AKW-Bewegung. In Gorleben traf ich dann auch mal einen Juso-Vorsitzenden mit Namen Gerhard Schröder – aber eigentlich ging es immer darum, dem Schweinestaat mit der Zwille eins überzuziehen. Das war sinnstiftend, aber nicht produktiv. Heute denke ich, dass ich zum Glück den Schritt in die wirkliche Militanz nicht gemacht habe.
Soweit zur Vorgeschichte. Die 90er waren dann aus persönlichen Gründen anders. In den Tagen des Mauerfalls kam mein Sohn auf die Welt. Glaub‘ mir, ein Kind ändert etwas. Alles andere ist auf einmal ziemlich unwichtig, und man verändert den Blick auf die Welt. Verantwortung ist etwas, das man plötzlich nicht nur für sich selbst trägt, sondern auch für sein Kind.
Auch diese Zeiten waren turbulent: Der Kalte Krieg war zu Ende, was die USA nicht davon abhielt, woanders Kriege zu führen. Wer wenigstens einigermassen wach war konnte auch erkennen, dass der Sieg des Kapitalismus in Verbindung mit ungehemmtem Wirtschaftsliberalismus die Erde ebenso ruinieren könnte wie es ein Atomkrieg getan hätte. Die Frage, meine Frage war: Wie kann ich das ändern? Wo kann ich mich engagieren, um auch einen Impact zu erzielen?
In jeder den meisten der damaligen Parteien gab es damals Positionen, die ich geteilt habe – und Positionen, die ich kompletten Mist fand. Die SPD hatte Anfang der 80er eine ziemlich anstrengende Position zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland, stand aber für eine zutiefst demokratische Gesellschaft. Die Liberalen, in den 70ern mit der Vision einer freiheitlichen Zivilgesellschaft, hatten sich in den Wirtschaftsliberalismus geflüchtet. Die Grünen, die sich qua Programm die Bewahrung der Schöpfung auf die Fahnen geschrieben hatten, waren durchsetzt von fragwürdigen Gestalten mit brauner Vergangenheit und Pädophilen. Die CDU – ja, die fand ich immer schon indiskutabel. Ich verstehe bis heute nicht, wie jemand aus einer Arbeiterfamilie die Partei des Grosskapitals wählen kann.
Also die SPD? Veränderung auf demokratischem Wege? Letztlich nicht die Revolution machen, aber eine Gesellschaft bauen, die auf Teilhabe, Verständigung und Kompromissen basiert? Es gab Leute wie Erhard Eppler, aber es gab auch Betonköpfe. Mir erschien das als das geringste Übel und als die grösste Chance auf Veränderung innerhalb eines Systems, das gerade die Konkurrenz in Form des so genannten Kommunismus besiegt hatte.
Vor Ort gab es andere Aufgaben: Ein Kinderspielplatz, eine bessere Busverbindung, aber auch (qua Beruf, damals arbeitete ich als Sozialarbeiterin) bessere Angebote für Familien und Kinder, die am Rand der Gesellschaft standen. Das habe ich ein paar Jahre gemacht und dabei Dinge wie „Betreute Grundschulen“ und bessere Angebote im Bereich Sozialberatung und Weiterbildung auf dem Weg gebracht. Mit viel persönlichem Engagement und mit Unterstützung aus „meiner“ Partei.
Das neue Jahrtausend bedeutete in vieler Hinsicht einen Aufbruch. Während mein Sohn ein Tamagotchi hatte (und ich die K*cke weggemacht habe), sich mein Nebenjob der Öffentlichkeitsarbeit für Soziale Projekte sich zu einem Hauptjob als Webentwicklerin wandelte (eigentlich gab es das Wort damals noch gar nicht – wir wollten halt mit Digitalangeboten die Partizipation stärken und, das war dann schon wieder revolutionär, sahen in Vernetzung endlich die Möglichkeit, jeder|m Gehör zu verschaffen und wissen heute, wie das in ubiquitärem Hass geendet hat), gab es auch vor der Tür viele Veränderungen. Nine-Eleven war so ein Einschnitt, nach dem Kriege wieder führbar wurden. Der Digitale Sektor explodierte und implodierte mal kurz wieder. Und ein Herr Schröder verlangte meiner Partei ab, den Sozialstaat umzubauen.
Das schmerzte nicht nur mich, aber auf der anderen Seite gab es auch Dinge, die Mut machten. Eine Bundesregierung, die sich dem Krieg im Irak verweigerte und gleichzeitig einen ökologischen Umbau der Gesellschaft begann. Manches fand ich falsch, manches wichtig und richtig. Nach fast zwei Jahrzehnten der bleiernen Kohl-Zeit war wieder vieles in Bewegung. Und meine Partei war ein Teil davon.
In dieser Zeit habe ich zwei Dinge gelernt. Zum Einen: Kompromisse zu machen. Du dröselst das in Deinem Artikel ja auch auf: Partei A hat diesen Standpunkt, Partei B und C haben jenen. Mit keiner Partei ist man in jedem Aspekt einverstanden.
Das Zweite, was ich gelernt habe, war, dass es sich Engagement trotzdem lohnt, weil es keinen anderen Ort gibt, in dem ich tatsächlich so viel Gehör finde wie innerhalb einer Partei. Da wird nicht nur im Hinterzimmer gekungelt und hinterher Grünkohl gegessen, sondern es wird diskutiert und um den besten Weg, das beste Argument gestritten. Ja, das ist anstrengend. Das kann nervig sein, und manchmal ist man auch komplett ausgelaugt davon, an sieben Abenden in der Woche Diskussionen zu führen, Aktionen zu planen und umzusetzen.
Aber ich habe meine Agenda umgesetzt. Wir leben in einer anderen Gesellschaft als noch vor zwanzig, dreissig, vierzig oder fünfzig Jahren. Wir haben dabei manchmal gerade Wege beschritten und sind manchmal grosse Umwege gegangen. Wir haben wichtige Themen vorangebracht, und genauso haben wir auch um andere Themen einen Bogen gemacht. Auch um welche, die nicht nur ich dringend, drängend und wichtig finden.
Aus meinem Beruf heraus finde ich, dass sich Deutschland immer noch wie ein digitales Entwicklungsland aufstellt. Ich finde es zum k*tzen, dass Menschen in einem der reichsten Länder der Erde hungern oder keinen gerechten Zugang zu Bildung haben. Eine Gesellschaft, die Menschen Flexibilität in der Arbeit abverlangt, sollte sie auch beschützen können. Es wird immer noch zu viel Geld für Waffen ausgegeben. Und Menschen machen sich nach Europa auf, weil unsere Wirtschafts- und Umweltpolitik ihnen woanders die Lebensgrundlage entzieht.
Aber es ist die Frage, was von den drängen Problemen wir lösen können. Damit meine ich nicht abstrakt, sondern ganz konkret. Wir könnten sofort Brot verteilen. Wir könnten sofort alle Kohlekraftwerke abschalten und nicht mehr Auto fahren und in den urlaub fliegen. Wir könnten sofort anders wirtschaften, um Menschen in unterentwickelten Ländern (hej, spannendes Wort … ist das nicht Imperialismus in Reinkultur?) ein Leben in Würde und angemessenem Wohlstand zu ermöglichen. Wir könnten so vieles tun, und tun es in der gegebenen Zeit nicht.
Die Frage ist auch: Wie können wir das tun. Ich lese aus Deiner Kolumne heraus, dass Menschen unzufrieden sind mit dem Tempo der Problemlösung. Ich bin da bei Dir, würde das aber nicht auf ein Generationenproblem reduzieren wollen. Zu sagen, „die Älteren verkacken die Zukunft weil sie zu wenig tun“ ist zu kurz gedacht und schafft nur neue Gräben. Mit Gräben erreichen wir im Moment gar nichts sondern verschwenden nur Zeit, die wir vermutlich nicht haben.
Ich persönlich habe gelernt, dass es immer Kompromisse sind, die ich eingehen muss. Das betrifft mein Engagement innerhalb der Gesellschaft genauso wie mein Engagement innerhalb einer Partei. Wenn ich Kohlekraftwerke abschalten möchte, dann muss ich hinnehmen, dass sich jemand für die Lebensperspektiven von Bergleuten einsetzt. Ich muss mich daran beteiligen, eine tragfähige Lösung zu finden. Und das beinhaltet dann auch Kompromissfähigkeit, miteinander reden, gemeinsam Wege zu finden.
Man kann das Mist finden und denken, dass daran ein ganzes System versagt. Ein Arbeitsplatz ist aus meiner Sicht das geringere Problem, wenn gleichzeitig der Klimawandel unser Essen vernichtet. Aber das ist eine zugespitzte Sicht der Dinge, denn ich weiss nicht, ob es vielleicht Lösungen gibt, die zwischen den Ausgangspositionen liegen. Ich muss das verhandeln. Ich muss mit Menschen reden. Ich muss Konzepte entwickeln, die für alle tragbar sind und die dafür sorgen, das die Norddeutsche Tiefebene nicht im Meer versinkt und gleichzeitig Menschen eine ökonomische Lebensgrundlage haben.
Ich finde, alle Mittel sind dazu legitim. Es darf nicht darum gehen, ob eine Protestform konstruktiver ist als eine Diskussionsform. Ich finde, man muss die Foren und Plattformen suchen und nutzen, auf denen Debatten genauso stattfinden wie das Erarbeiten von Lösungen. Wenn das die Strasse ist, auf der ich gehört werde, dann ist das okay. Wenn es das Netz ist, auf denen ich Diskussionen anrege, dann ist das okay. Und wenn das Parteistrukturen sind, auf denen ich verschiedene Wege anschaue und Veränderungen auf den Weg bringe, dann ist das auch okay.
Ich kann verstehen, wenn jemand das auf den ersten Blick als anstrengend empfindet oder als zu langsam. Ich kann verstehen, wenn jemand ein Engagement innerhalb von Parteien als undurchschaubar und zu gross empfindet (nebenbei, in meiner Partei kann auch mitarbeiten, wer nicht Mitglied ist).
Aus meiner eigenen Erfahrung heraus (und das schreibe ich nicht von oben herab mit der Weisheit der gelebten Jahre und geführten Kämpfe) empfinde ich das aber im Ergebnis als falsch, denn zentrale politische Prozesse finden genau dort statt.
Mehr noch: Ich habe es Zeit meines Lebens immer so empfunden, dass ich Gesellschaft etwas zurückgeben sollte. Und zwar jenseits von „lohnt sich das“ oder „das ist anstrengend“ oder auch „mir passen Aspekte nicht“. Warum: Weil Gesellschaft auch nicht gefragt hat, als sie mir Schulbildung und Studium ermöglicht hat, dafür gesorgt hat, dass es in diesem Land im Grossen und Ganzen friedlich zuging, meinem Kind ermöglicht hat, mehrsprachig im Grenzland zu Dänemark aufzuwachsen ohne dass es dafür diskriminiert wurde. Dafür, dass die Infrastruktur besser als in Lagos oder Mumbay ist. Dafür, dass es Strom, Heizung und Arbeit gibt (in welcher Form auch immer). Dafür, dass die Europäische Union ein unendlich geiles Projekt ist, das dem Kontinent die längste Friedensperiode seiner Geschichte gebracht hat.
In diesem Geist habe ich ganz unterschiedliche Dinge getan – das reicht von der Mitarbeit in einem Jugendzentrum über die Mitgründung eines Verbandes, der sich für die Interessen älterer lesbischer Frauen einsetzt bis hin zu einem Jahrzehnt der Geschäftsführung für einen sozialen Träger eines Kommunikations- und Beratungszentrums. Alles im Ehrenamt.
Nicht alles ist so gut wie ich es mir wünsche, aber es ist besser als an sehr vielen anderen Orten.
Auch das ist etwas, was mit meinem Engagement innerhalb einer Partei zu tun hat. Irgendjemand muss es ja auch machen, sonst macht es niemand.
Mein Wunsch deshalb: Trage dazu bei, dass Menschen eine Arbeit innerhalb einer Partei als das begreifen was es ist – der zentrale Hebel für politische Willensbildung, Veränderung und Fortschritt. Meinetwegen trage auch dazu bei, dass Menschen sich anderswo – in Vereinen und Vereinigungen, in Gewerkschaften, in der kommunalen Politik, in Initiativen etc. engagieren.
Trage dazu bei, dass persönliches Engagement als das betrachtet wird was es ist: Als das Fundament unserer Gesellschaft.
Wenn Parteien Themen gefühlt verschlafen, wenn die Kompetenz fehlt, komplexe Sachverhalte im positiven Sinne zu verändern, dann trage dazu bei, dass es Menschen aller Generationen gibt, die ihre Kompetenz einbringen.
Nutze Deine Reichweite, nutze, dass Deine Stimme gehört wird. Es steht alles auf dem Spiel, und nur gemeinsam haben wir eine Chance, die Welt zu verändern und zu verbessern.