Seitdem am vergangenen Wochenende die AfD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern zweitstärkste Partei geworden ist entbrennt die Suche nach den Ursachen wieder neu. Während die eine Seite darüber schwadroniert, das sich Menschen abgehängt fühlen faselt die andere von Nazis. Mir ist das egal, denn beides ist falsch.
Vorweg: Meine eigene Familie wurde in Deutschland mal mehr, mal weniger willkommen geheissen. Meine Vorfahren, Grossmütter, Grossväter, Onkels und Tanten waren entweder Kommunisten, Dänen, Polen, Juden, Nazis, Spiesser und Migranten – und manchmal auch mehreres davon. Einer meiner Onkel war Spanienkämpfer, während einer meiner Grossväter seine dänischen Wurzeln erst ignorierte, und dann, als es Butter gab, wiederentdeckte. Der ostpreussische Teil der Familie suchte sein Heil im strengen Katholizismus, während ein andere Teil – aus dem obskureren Osten – einer anderen Religion huldigte und sich fröhlich durchschlemihlte. Allen gemeinsam war: Sie waren nicht von hier.
Und so ist denn auch meine Kindheit voll von Erzählungen gewesen, die von formidablen Deals mit als Gänsen getarnten Schwänen auf dem Schwarzmarkt, Dokumentenfälschungen für ‚arische‘ Papiere, Koffern voller geschmuggelter Butter, auf Fluchten verlorenemHab und Gut, Lagern mit Namen wie ‚Marienhof‘ und ‚Föhrenwald‘ und ähnlichem handelten. Kurz gesagt: Alle waren irgendwie auf einer Flucht, alle haben sich durchgeschlagen, alle haben irgendwie überlebt. Und alle haben Wege gefunden, sich mit Ausgrenzung und Entrechtung zu arrangieren.
Alle waren Flüchtlinge und Vertriebene, jede und jeder auf ihre und seine Weise. Alle sind angekommen – mal in Ostberlin oder Hamburg, mal in Schleswig-Holstein, im Rheinland oder am Main.
In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ich aufwuchs, waren all diese Menschen Aussenseiter. Mit ihnen wurde nur der nötigste Kontakt gehalten, vielleicht schlimmer noch als mit den Menschen aus den deutschen Ostgebieten, die in Siedlungen lebten, in denen die Strassen nach verlorenen Orten benannt waren. In den Schulen gab es die ‚Einheimischen‘ und ‚die Anderen‘. Und die Anderen hatten es schwer, wenn die Einheimischen ihr Hochdeutsch vergassen und in Dialekten sprachen. Das war praktische Ausgrenzung, getrieben von Angst vor dem Fremden, das vermutlich gar nicht so fremd war.
In den späten 60er Jahren veränderte sich das allerdings – es kamen weitere ‚Andere‘, diesmal aus Italien, Jugoslawien oder der Türkei. Die waren jetzt auch für die ‚Anderen‘ anders – und man konnte zusammenrücken, wenn die ‚Einheimischen‘ das zuliessen. Manchmal taten sie das – in heimatverbundenen Regionen vielleicht auch etwas später.
Bemerkenswert war die Angst vor den ’neuen Anderen‘, die anders sprachen, andere Feste feierten und manchmal an andere Götter glaubten. Das Essen … Mama Mia! Legendär der Ausspruch von Alfred Tetzlaff, der keine ‚Mafiatorte‘ essen wollte und ansonsten auch mal über ‚Knoblauchfresser‘ abzog. Essen und Fressen, vielleicht machte das damals den Unterschied?
Bemerkenswert war das vor allem in einer Zeit, in der es ‚uns wieder gut ging‘, Vollbeschäftigung herrschte und über den Kindern der 60er der neue Reichtum in unglaublicher Fülle ausgegossen wurde. Niemand musste hungern, alle hatten wieder ein Dach über dem Kopf, ein Auto war selbstverständlich, und man regte sich über Benzinpreise von umgerechnet 0,35 Cent für den Liter auf.
Die ’neuen Anderen‘ waren ja sowieso weitgehend unsichtbar. Sie holten den Müll ab (dafür waren sie mit Warnwesten gekennzeichnet), arbeiteten auf dem Bau, an Hochöfen und vielleicht auch in Fabriken. Günter Wallraff hat darüber, als er noch Journalist war, ein umfangreiches Buch geschrieben. Die Italiener hatten manchmal mehr Glück – zumindest durften sie für uns kochen. Das waren aber auch ‚Andere‘, die aus einem Land der EWG kamen.
In dem Mass, in dem die ’neuen Anderen‘ ausgegrenzt wurden, kamen sich die ‚Einheimischen‘ und die bisherigen ‚Anderen‘ dann näher. Etwas zumindest. Und Ende der 80er Jahre, als die Mauer fiel und nun wieder neue ‚Andere‘ dazu kamen, die in qualmenden Knatterkisten den Kurfürstendamm zustänkerten und nach Bananen gierten, da waren wir im Westen Deutschlands zum ersten Mal nahe dran an einer Gesellschaft, in der alle teilhaben konnten.
Zu den NULL ‚Anderen‘ mit Migrationshintergrund in der Grundschule und den ersten Jahren des Gymnasiums waren während der Oberstufe zwei Mitschüler aus türkischen Familien hinzugekommen und im Studium Mitte der 80er dann auch welche in der Universität, mit denen man gemeinsam im Wohnheim kochen konnte und von fernen Ländern träumte. Dazu kamen jetzt noch ein paar Griechen, deren Land nun auch in der EG war, die alle ‚Kosta‘ hiessen und vorzügliches Gyros machten.
Uns ging es gut, und wir wurden langsam Freunde.
Im Ostteil des Landes, in dem die Völkerfreundschaft und der Antiimperialismus auf Plakaten stand, war das jetzt leider etwas anders. Man bekam die Quittung dafür, dass man Integration nicht verordnen kann, und man zündete dann eben ein paar der Wohnheime, in denen Menschen aus Mozambique, Vietnam oder Chile wohnten an. Zum ersten Mal hörte man wieder ‚Deutschland den Deutschen‘, und das schwappte dann auch an Orte wie Mölln und Solingen über, wo komplette Familien mit türkischen Wurzeln vom Mob ausgelöscht wurden. Schrecklich.
Verstörend war allerdings, dass sich dieser Hass nicht auflöste, nachdem die ökonomischen Verwerfungen der Nach-Wende-Zeit vorbei waren. Den Menschen geht es wirtschaftlich gut, es gibt niemanden, der sie konkret bedroht, die Innenstädte sind auch im Osten renoviert – und trotzdem stehen die Schlagworte vom ‚Ausverkauf‘ an Fremde im Raum. Ganz so, als wenn die Veränderungen im globalisierten Welthandel nicht dazu beigetragen hätten, dass es im strukturschwachen Grenzgebiet nun auf einmal auch wirtschaftliche Perspektiven gibt, die man nur ergreifen muss.
Deutschland hat ausgeglichene Haushalte, nahezu Vollbeschäftigung und seit sieben Jahrzehnten keinen Krieg erlebt. Kinder werden von Helikoptereltern im Zweit-SUV vom Kindergarten bis in die Universität getragen (überhaupt hat der Anteil derer mit höheren Bildungsanschlüssen inzwischen Rekordniveau erreicht), und auch die Bilanz beim Thema Ökologie und nachhaltige Wirtschaft macht uns so leicht niemand nach.
Und trotzdem echauffieren sich Menschen darüber, dass Flüchtlinge ein besseres Smartphone als sie selbst haben, schwadronieren merkbefreit von einer geplanten Islamisierung und Abschaffung Deutschlands. Eine Politikerin verstieg sich zu der Aussage, dass die Kanzlerin schon ihre Emigration nach Chile plane, wenn sie auftragsgemäss alles abgewickelt hätte, und ganze Landkreise im Osten wählen geschlossen schwarz-braun – verrückterweise (?) die mit dem geringsten Anteil an Menschen ‚fremder‘ Herkunft.
Nichts davon hat in mit der Realität zu tun, und die Brandstifter vom rechten Rand wissen das auch sehr gut. Nur die Menschen wissen es nicht.
Ein Blick in die Gesellschaftswissenschaften (der mir als Sozialwissenschafterin natürlich nahe liegt) mag da ein wenig mehr Verständnis bringen. Mit dem Begriff Integration hat sich die Soziologie als moderne Gesellschaftswissenschaft nämlich schon seit Frühzeiten beschäftigt, und bereits Emile Durkheim und Georg Simmel beschrieben gesellschaftlichen Wandel als Wandel im Modus von Integration. Spannend ist dabei die Beschreibung von der Funktion archaischer Stammesgesellschaften als kleinteilig und auf Faktoren wie räumliche Nähe und Verwandtschaft bezogen: Man kann sich vorstellen, wie das in familienbezogenen Gruppen von Jägern und Sammlern funktioniert hat. Herbert Spencer nannte das übrigens ‚militante Gesellschaft‘, weil sie vor allem auf Schutz nach Aussen hin ausgerichtet war. Wie sich die Worte gleichen.
Unsere Welt ist inzwischen anders, denn über die Jahrhunderte und Jahrtausende sind wir bei einer arbeitsteiligen Gesellschaft angekommen, die funktional differenziert und heterogen ist. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben wir da wieder einen Turbo gezündet, indem digitale Vernetzung und Mobilität der einzelnen Menschen diese Heterogenität weiter befördert haben. Das eine solche Gesellschaft andere Mechanismen für ihre Selbstorganisation benötigt liegt klar auf der Hand. Das Stammes- und Familienmodell ist am Ende, denn es kann komplexe weltweite Beziehungen nicht abbilden. Benötigt wird ein prozessorientiertes, an Funktionen ausgerichtetes Gesellschaftsmodell. Emilie Durkheim spricht von ‚Organischer Solidarität‘ als Grundprinzip – in Kurzform könnte man das beschreiben als das Wissen aller, dass sie ohne die Fähigkeiten, Besonderheiten und Arbeitsergebnisse anderer, fremder Menschen aufgeschmissen sind und sie deshalb ein Interesse daran haben, sie zu achten.
Anscheinend ist dieser Gedankengang allerdings für einige Menschen zu komplex.
Eigentlich ist das ja erst einmal kein Problem. Jeder hat das Recht, sich mit Dingen zu beschäftigen – oder eben auch nicht.
Es wird aber eines, wenn sich Menschen dazu aufschwingen, diesen ‚Kopf-in-den-Sand-steckern‘ eine einfache Antwort auf die Frage geben, wie ihre Welt demnächst denn aussehen wird. Und es wir ein grösseres Problem, wenn sie dazu auf Gesellschaftsmodelle aus der afrikanischen Steppe zurückgreifen (ausgerechnet!) und versuchen zu erklären, dass das, was für Luzy gut war nun auch für den durchschnittlichen Menschen in Vorpommern gut ist: Ausgrenzung anderer aus dem Stammesverband.
Das ist natürlich Blödsinn.
Integration in eine komplexe moderne Gesellschaft gelingt über Teilhabe. Genau das ist es, was in der plakatierten Völkerverständigung der damaligen DDR gefehlt hat, und aus genau diesem Grund konnten die Flüchtlingsunterkünfte in Rostock-Lichtenhagen brennen, nachdem jemand gezündelt hatte.
Und genau deshalb gilt jetzt, nicht erneut auszugrenzen, sondern Teilhabe zu stärken, um damit den Brandstiftern den Boden zu entziehen.