Das Interview des Spiegel mit Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble im Volltext

DER SPIEGEL Heft 28 / 2007 / 8.7.2007

"Es kann uns jederzeit treffen"

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, 64, über die Gefährdung Deutschlands
durch islamische Terroristen und seinen Plan, den Rechtsstaat umzubauen

SPIEGEL: Herr Minister, die britischen Behörden wussten kaum etwas über die
Attentäter von London und Glasgow, die deutschen Geheimdienste hatten nie von
den Bahnbombern im Juli 2006 gehört. Haben die Ermittler den Kontakt zu
potentiellen Terroristen in Europa verloren?

Schäuble: Das Problem ist, dass sich solche Gruppen mittlerweile spontan
bilden. Bei den Kofferbomben im vergangenen Sommer haben sich die mutmaßlichen
Täter erst wenige Monate vorher kennengelernt. In Großbritannien scheint es
nach ersten Erkenntnissen ähnlich gewesen zu sein. Insofern stimmt es: Wir
kennen bei weitem nicht alle potentiellen Attentäter.

SPIEGEL: Es scheint, als sei es nur noch eine Frage des Glücks, ob ein Anschlag
verhindert werden kann.

Schäuble: Dass die Kofferbomben von Köln nicht explodiert sind, war tatsächlich
Glück, aber darauf dürfen wir uns nicht verlassen. Vor allem die Geheimdienste
und das Bundeskriminalamt müssen alles Erdenkliche tun. Wenn uns aber ein
schwerer Anschlag treffen sollte, sollten wir das notwendige Maß an
Gelassenheit bewahren, so wie die Briten jetzt. Darum geht es mir, wenn ich
sage: Es kann uns jederzeit treffen. Das ist eine Form der politischen Vorsorge.

SPIEGEL: Terrorismus lebt davon, Angst zu verbreiten. Ist es klug, wenn sich
der Bundesminister des Innern und sein Staatssekretär an diesem Wechselspiel
beteiligen und die heutige Situation mit der Lage kurz vor den Anschlägen des
11. September 2001 vergleichen?

Schäuble: Wenn wir sagen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags so hoch
wie nie zuvor ist, schwingt da keine Panikmache mit. Das ist eine Darstellung
der Realität. Die Öffentlichkeit neigt leider dazu zu glauben, wir seien nicht
bedroht.

SPIEGEL: Die aktuelle Zuspitzung geht auf die Amerikaner zurück, die in einer
Analyse vor drohenden Anschlägen gewarnt haben und fordern, mehr zu
unternehmen. Wie sehr fühlen Sie sich durch Washington unter Druck gesetzt?

Schäuble: Wir arbeiten mit den US-Geheimdiensten derzeit so eng zusammen wie
nie zuvor. Kein Land hat eine so gute weltweite Aufklärung wie die Amerikaner,
davon profitieren wir tagtäglich. Ich habe mich in den vergangenen Wochen
mehrfach mit Michael Chertoff, dem amerikanischen Heimatschutzminister,
getroffen. Er hat mich Mitte Mai auch mit seiner Frau daheim in unserem Haus in
Gengenbach besucht, und wir haben uns sehr offen über die Terrorgefahr
ausgetauscht.

SPIEGEL: Offenbar mit nachhaltiger Wirkung. Nach Chertoffs Besuch hat
Kanzleramtsminister Thomas de Maiziere erstmals seit Herbst 2001 die sogenannte
Sicherheitslage zusammengerufen. Die Regierung wollte Pläne für den Ernstfall
besprechen.

Schäuble: Wir und die Amerikaner wissen seit Monaten um die gesteigerte
Bedrohung von US-Einrichtungen in Deutschland, wir beobachten Reisebewegungen
von Verdächtigen zwischen Pakistan und Deutschland.

SPIEGEL: Ihrer Meinung nach ist mit dem herkömmlichen Instrumentarium der
Sicherheitspolitik dem islamischen Terrorismus nicht beizukommen, weil er eine
Mischung aus Kriminalität und Krieg darstelle.

Suchen Sie nach einem dritten Weg jenseits von Feindstrafrecht und klassischem
Rechtsstaat?

Schäuble: Tatsache ist, dass die alten Kategorien nicht mehr passen. In
Afghanistan führen wir keinen klassischen Krieg, aber die internationale
Rechtsordnung passt dort auch nicht, deshalb brauchen wir neue
Begrifflichkeiten. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist mit den
klassischen Mitteln der Polizei jedenfalls nicht zu meistern. Wenn
beispielsweise potentielle Terroristen, sogenannte Gefährder, nicht abgeschoben
werden können – was machen wir mit denen? Man könnte beispielsweise einen
Straftatbestand der Verschwörung einführen, wie in Amerika. Die andere Frage
ist aber: Kann man solche Gefährder behandeln wie Kombattanten und internieren?

SPIEGEL: Sie wollen eine Vorbeugehaft für Islamisten?

Schäuble: Nein. Wir müssen jedoch klären, ob unser Rechtsstaat ausreicht, um
den neuen Bedrohungen zu begegnen. Den sogenannten Unterbindungsgewahrsam gibt
es ja jetzt schon, zum Beispiel für Hooligans bei Fußballspielen, wenn auch in
engen rechtlichen Grenzen. Und wir müssen darüber reden, ob das Maß an
Prävention, das unseren Polizeigesetzen heute schon eigen ist, genügt. Man
könnte zum Beispiel bestimmte Auflagen für jemand erlassen, den man nicht
abschieben kann, etwa ein Kommunikationsverbot im Internet oder mit dem Handy.
Die rechtlichen Probleme reichen bis hin zu Extremfällen wie dem sogenannten
Targeted Killing …

SPIEGEL: … also der gezielten Tötung von Verdächtigen durch den Staat. Schon
Ihr Amtsvorgänger Otto Schily hat Islamisten damit gedroht: "Wer den Tod liebt,
kann ihn haben."

Schäuble: Nehmen wir an, jemand wüsste, in welcher Höhle Osama Bin Laden sitzt.
Dann könnte man eine ferngesteuerte Rakete abfeuern, um ihn zu töten.

SPIEGEL: Die Bundesregierung würde wahrscheinlich erst einen Staatsanwalt
losschicken, um Bin Laden festzunehmen …

Schäuble: … und die Amerikaner würden ihn mit einer Rakete exekutieren, und
die meisten Leute würden sagen: Gott sei Dank. Aber seien wir ehrlich: Die
Rechtsfragen dabei wären völlig ungeklärt, vor allem, wenn daran Deutsche
beteiligt wären. Wir sollten versuchen, solche Fragen möglichst präzise
verfassungsrechtlich zu klären, und Rechtsgrundlagen schaffen, die uns die
nötigen Freiheiten im Kampf gegen den Terrorismus bieten. Ich halte nichts
davon, sich auf einen übergesetzlichen Notstand zu berufen, nach dem Motto:
"Not kennt kein Gebot."

SPIEGEL: Sie dehnen den Rechtsstaat bis an die Grenzen, wenn Sie ihn zu einem
Präventionsstaat umbauen und dabei auch staatliche Tötungen in Kauf nehmen.

Schäuble: Ach, woher denn! Schauen Sie doch nur in die Polizeigesetze der
Länder: Dort gibt es längst den sogenannten finalen Rettungsschuss. Das
Grundgesetz würde doch zerbrechen, wenn wir es nicht anpassen würden, gerade
bei solchen zentralen Fragen. Wer die Freiheit bewahren will, muss dafür unter
veränderten gesellschaftlichen Bedingungen etwas tun. Wir leben nicht mehr in
der Welt des Jahres 1949.

SPIEGEL: Kann es sein, dass der Preis der Sicherheit so hoch ist, dass sich der
Rechtsstaat aus Angst vor dem Terror aufgibt?

Schäuble: Andersrum ist es richtig. Die freiheitliche Verfassung wäre
gefährdet, wenn wir den Eindruck erwecken würden, wir könnten weniger Schutz
gewähren als andere, weniger demokratische Staatsformen. Das ist die Erfahrung
von Weimar. Ich bin ein glühender Anhänger der freiheitlichen,
rechtsstaatlichen Verfassung. Aber wenn wir sie uns von Terroristen nicht
nehmen lassen wollen, müssen wir handeln.

SPIEGEL: Wäre es sechs Jahre nach den Anschlägen des 11. September und vor dem
Hintergrund von Guantanamo nicht an der Zeit, dass der deutsche Innenminister
sagt: Wir sind wachsam, aber eine bestimmte rote Linie werden wir nicht
überschreiten, weil das unsere Gesellschaft unwiderruflich verändern würde?

Schäuble: Diese Frage kann ich nicht akzeptieren. Ich wünsche mir eine
Diskussionskultur, wo es weniger hysterisch zugeht. Die rote Linie ist ganz
einfach: Sie ist immer durch die Verfassung definiert, die man allerdings
verändern kann. Ein Vorschlag, das Grundgesetz zu modifizieren, ist kein
Anschlag auf die Verfassung. Für mich bedeutet die Stärkung des
Präventivgedankens auch eine Stärkung der Verfassung, weil sie den Menschen
Vertrauen gibt.

SPIEGEL: Mitunter legen Sie das Grundgesetz höchst flexibel aus, wenn es um
neue Überwachungsbefugnisse geht, wie etwa die heimlichen Online-Durchsuchungen
zeigen. Die haben die Sicherheitsbehörden ohne gesetzliche Grundlage jahrelang
angewandt.

Schäuble: Moment. Es gab einen Anwendungsfall im Inland. Ich habe nach dem
Urteil des Bundesgerichtshofs, mit dem die Richter die fehlende Rechtsgrundlage
moniert haben, die Praxis gestoppt. Ich halte das Urteil übrigens juristisch
für richtig. Aber das kann doch nicht heißen, dass wir überhaupt nicht mehr auf
Computer zugreifen können. Jetzt müssen wir eben eine saubere rechtliche
Grundlage dafür schaffen, und daran arbeiten wir. Wir wollen damit transparent,
kontrolliert und nachprüfbar umgehen. Ob eine Information, die die
Sicherheitsbehörden mitlesen, den Kernbereich der Privatsphäre verletzt, muss
im Einzelfall von einem Richter entschieden werden – nachdem die Daten
gesichert sind.

SPIEGEL: Sie hatten angekündigt, das Gesetz noch vor der parlamentarischen
Sommerpause einzubringen. Die hat nun begonnen. Wo bleibt Ihr Vorschlag?

Schäuble: Tja, das habe ich dann offensichtlich nicht zustande gebracht.

SPIEGEL: Und nun? Wagen Sie den Alleingang und bringen die strittige Vorlage
inklusive der Formulierungen für heimlich Online-Durchsuchungen ins Kabinett
ein?

Schäuble: Noch setze ich auf das Gespräch, es gibt ermutigende Signale. Gerade
hat mir der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck noch einmal öffentlich
bestätigt, er sei absolut gesprächsbereit für meine Vorschläge. Das betrifft
auch die Online-Durchsuchungen. Was mich aufregt, ist der journalistische
Sprachgebrauch. Da ist nur noch von heimlichen Durchsuchungen die Rede …

SPIEGEL: … um die es genau geht. Bei Wohnungsdurchsuchungen sieht die
Strafprozessordnung vor, dass der Durchsuchte anwesend sein darf. Wenn Sie
einen Computer durchsuchen, erfährt keiner davon.

Schäuble: Bei der Gefahrenabwehr muss man gelegentlich auch ohne Wissen der
Betroffenen agieren können. Wenn die Sache erledigt ist oder sich herausstellt,
dass es keinen Grund gegeben hat oder das Problem gelöst ist, dann soll und
wird die Information erfolgen.

SPIEGEL: Die Betroffenen, deren Computer Verfassungsschutz und Polizei teils
über ein Jahr lang überwacht haben, wissen bis heute nicht, dass der Inhalt
ihrer Festplatten auch bei den Behörden liegt.

Schäuble: Wissen Sie, was mich ärgert? Ich habe diese Entscheidung nicht
getroffen – und die Praxis nach der Gerichtsentscheidung sogar gestoppt. Ich
lasse mir von denjenigen, die da ein bisschen großzügiger waren …

SPIEGEL: … den Sozialdemokraten, die die Online-Durchsuchung unter Otto
Schily einführten …

Schäuble: … nicht gern vorwerfen, ich wäre jemand, der dauernd die Verfassung
brechen will.

SPIEGEL: Sie wirken, als wollten Sie schon jetzt die Schuldfrage klären für den
Fall, dass eine Bombe hochgeht.

Schäuble: Nein, aber das Internet ist zum zentralen Medium für Islamisten
geworden, und wer das nicht sieht, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden.
Die Sache drängt. Ich kann nicht bis in die nächste Legislaturperiode warten.

SPIEGEL: Biometrische Ausweise, Videoüberwachung, Fluggastdaten, Geruchsproben,
Tornados über Heiligendamm: Gaukeln Sie den Bürgern mit solch martialischem
Auftreten nicht ein vermeintliches Mehr an Sicherheit vor, das Sie nicht
versprechen können?

Schäuble: Ich bin doch immer derjenige, der sagt, dass es keine
einhundertprozentige Sicherheit gibt. Ich tue auch als Innenminister nicht so,
als hätten wir alles im Griff. Ich habe vor der Fußball-Weltmeisterschaft und
vor dem G-8-Treffen in Heiligendamm gesagt, dass es keine Garantie gibt, dass
alles ruhig bleibt. Deshalb ziehe ich mir den Schuh nicht an, ich würde durch
besonders martialisches Auftreten einen falschen Eindruck von Sicherheit
vermitteln.

SPIEGEL: Können Sie nachvollziehen, dass Ihre Vorstöße bei vielen Bürgern
Unbehagen auslösen?

Schäuble: Ich weiß, dass es da Ängste gibt und dass das auch in
Meinungsumfragen nur begrenzt auf Zustimmung stößt. Das ist so ähnlich wie mit
der Volkszählung. Deswegen verlange ich ja von politischer Führung, dass sie
diese Ängste ernst nimmt, aber ihnen nicht nachgibt. Wir müssen versuchen zu
überzeugen. Ich werbe dafür und erkläre es, und ich mache nichts heimlich,
sondern auf klaren verfassungsrechtlichen Grundlagen.

SPIEGEL: Ein Verkaufsschlager im Internet ist ein T-Shirt mit Ihrem Konterfei
und der Unterschrift "Stasi 2.0". Kennen Sie es?

Schäuble: Bisher nicht. Da hat sich, wenn ich das ironisch sagen darf,
wenigstens die Marktwirtschaft durchgesetzt. Im Ernst: Das ist das Ergebnis von
unseriösen öffentlichen Debatten und unseriöser Berichterstattung, und das
ärgert mich. Wenn ich mit 15- oder 16-jährigen Schülern diskutiere, dann tut es
mir schon weh, wenn ich die Folgewirkungen dieser Debatten sehe. Diese Kinder,
die überhaupt keine Hemmungen haben, alle ihre Daten im Internet zu verbreiten,
glauben jetzt, sie würden in einem Staat leben, wo sie der Innenminister rund
um die Uhr überwacht.

SPIEGEL: Sie und Ihre Kollegen waren es doch, die mit den Geruchsproben bei G-8-
Gegnern und den Tiefflügen der Tornados über die Protest-Camps zu diesem Gefühl
beigetragen haben.

Schäuble: Der Innenminister nicht. Da müssen Sie sich an die
Bundesanwaltschaft, den Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern und das
Verteidigungsministerium wenden.

SPIEGEL: Wir reden über einen verbreiteten Eindruck in der Bevölkerung …

Schäuble: … der oftmals von unvollständiger Information geprägt ist. Sie
wollen doch nicht im Ernst behaupten, die Entnahme einer Geruchsprobe bei drei
Tatverdächtigen habe auch nur im Entferntesten etwas mit der Praxis der Stasi
zu tun! Wenn das im Fernsehen und in den Zeitungen so berichtet wird und auch
Politiker so daherreden, glauben 14-jährige Hauptschüler, das sei so.

SPIEGEL: Bei Ihrem vehementen Plädoyer für einen starken Staat müssten Sie doch
befürworten, dass die Münchner Staatsanwaltschaft die Festnahme der
mutmaßlichen CIA-Agenten beantragt hat, die 2004 den Deutsch-Libanesen Khaled
el-Masri verschleppt haben. Warum kritisieren Sie die Hartnäckigkeit der
deutschen Justiz in diesem Fall?

Schäuble: Wir sind auf die Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten,
insbesondere den Amerikanern, geradezu lebensnotwendig angewiesen. Sonst kann
ich die Verantwortung für die Sicherheit dieses Landes als Innenminister nicht
tragen. Andererseits sind auch Nachrichtendienste an Recht und Gesetz gebunden.
Aber die USA stehen auf dem Standpunkt, dass sie das am besten selbst regeln.
Das sollten wir respektieren.

SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.